20.05.2023 POLITIK • Lizenziert
Die Spätzünder
Sie sind Handwerker oder arbeiten in Werbeagenturen. Nun lassen sie sich von
der Bundeswehr als Reservisten ausbilden. Warum machen die Leute das?
VON MATTHIAS KOLB
Idar-Oberstein – Es waren die Bilder aus Butscha, die für Daniel Gay vieles veränderten. Im April 2022 sieht er ein Video: Es zeigt einen Mann, der in dem Vorort der ukrainischen Hauptstadt Kiew ein Fahrrad durch die Straßen schiebt. Er biegt um eine Ecke, dann werden aus russischen Panzerfahrzeugen Schüsse abgefeuert, und der Mann liegt tot am Straßenrand. Das Bild hat sich Daniel Gay ins Gehirn gebrannt – und der Gedanke: „Verdammt, das kann auch hier bei uns passieren. Wenn so etwas Grausames geschieht, dann will man wehrhaft sein, oder?“
Und so steht er, der knapp 20 Jahre zuvor aus Überzeugung eben nicht zur Bundeswehr ging, sondern Zivildienst leistete, Ende April auf einer Schießanlage in Idar-Oberstein. In den ausgestreckten Armen hält er eine Pistole vom Typ P8Pistole. Gay trägt Flecktarn, Ohrenschutz und eine 15 Kilo schwere Schutzweste. Als der Ausbilder neben ihm „Kontaktstellung“ ruft, zielt Gay auf die sogenannte Zonenscheibe und drückt ab. Erst wird aus fünf Metern Entfernung geschossen, später aus zehn und 15 Metern.
Der halbe Tag auf der Schießanlage gehört zu einem kaum bekannten Programm, das die Bundeswehr seit 2019 anbietet. Es ermöglicht „Ungedienten“, also Männern und Frauen, die bisher keinen Wehrdienst geleistet haben, Soldaten der Reserve zu werden. Das bedeutet, dass sie anschließend einige Tage oder Wochen pro Jahr an Übungen teilnehmen werden – und dass sie bereit sind, im Kriegs- oder Spannungsfall Kasernen zu bewachen oder Verwundete zu transportieren.
Laut Bundesverteidigungsministerium haben in den ersten vier Jahren, also bis Ende 2022, insgesamt „912 Soldatinnen und Soldaten“ die Ausbildung abgeschlossen. Für 2023 habe sich die Zahl der Interessenten im Vergleich zum Vorjahr „mehr als verdoppelt“: 482 Zivilisten wollen in diesem Jahr Reservisten werden.
Für die Bundeswehr mit ihrem chronischen Personalmangel ist das ausnahmsweise mal eine gute Nachricht. Das Ziel, die Truppenstärke bis 2031 von derzeit 183 000 Soldaten auf 203 000 zu erhöhen, hält nicht nur Eva Högl, die Wehrbeauftragte des Bundestags, für nahezu unerfüllbar. Die Zahl von knapp 500 Neu-Reservisten pro Jahr genügt nicht, um die Lücken zu schließen – und angesichts enormer Bürokratie und fehlender Infrastruktur sind dem Wachstum ohnehin Grenzen gesetzt.
Mit Pistolen und Gewehren hatte Daniel Gay zuvor wenig zu tun. Als Geschäftsführer einer Werbeagentur sitzt er viel im Büro, daher schätzte er sich auch nicht als „besonders fit“ ein, bevor er sich entschloss, Reservist zu werden. Gay ist einer von 33 Männern und vier Frauen, denen das Landeskommando Rheinland-Pfalz 2023 das nötige Fachwissen vermittelt. Der Jüngste ist 21, der Älteste 62 – und eigentlich sind sie Intensivmediziner, Handwerker, Ingenieure oder Studierende.
Es haben sich längst nicht alle wegen des Kriegs gegen die Ukraine entschieden, künftig zeitweise Uniform zu tragen. Einige haben bei der Flutkatastrophe im Ahrtal gesehen, wie wenig sie helfen können – und zugleich, wozu dagegen die Bundeswehr in der Lage ist. Viele zieht die Kameradschaft an und der Wunsch, sich für die Gesellschaft zu engagieren. Nur eben bei der Armee und nicht bei der Freiwilligen Feuerwehr, dem Technischen Hilfswerk oder einer Hilfsinitiative.
In Rheinland-Pfalz dauert die erste Hälfte der Ausbildung zehn Tage, und in dieser Zeit sind die Neulinge im „Lager Aulenbach“ auf dem Truppenübungsplatz Baumholder untergebracht. Zwölf Männer teilen sich eine Stube, geweckt wird gegen fünf Uhr, und der Unterricht endet selten vor 21 Uhr. „Viel Zeit zum Nachdenken bleibt an so vollgepackten Tagen nicht“, berichtet Gay in einer Pause auf dem Schießstand. Der 38-Jährige versucht es aber trotzdem, denn er dokumentiert auf dem Blog ungedient.de seinen Weg in die Bundeswehr.
Für diesen Weg hat er einige Zeit gebraucht: 315 Tage vergingen vom Abschicken der Bewerbung über die Sicherheitsüberprüfung bis zum „Einrücken“. Im Februar nannte er das Verfahren im Gespräch mit der SZ „undurchsichtig, langwierig und komplex“. In seinem Blog heißt es etwa: „Nicht nur bei der Beschaffung hat die Bundeswehr ein bürokratisches Problem.“ Es wirkt bizarr: Da wollen Leute zu einer Armee, der Zehntausende Soldaten und Soldatinnen fehlen – und müssen dann „zäh und hartnäckig“ sein, um überhaupt kommen zu dürfen, wie Gay schreibt. Mit seiner Website will er auch verhindern, dass künftige Kameraden zu früh aufgeben.
Also verfasst er Checklisten, wie viele Wochen es etwa dauert bis zur Musterung und wann man beim Karrierecenter nachfragen sollte. Er verlinkt Videos von diversen Bundeswehr-Websites, erklärt akribisch unzählige Abkürzungen und wie man seine Kriegsdienstverweigerung widerruft – nämlich mit einer E-Mail an das BAFzABundesamt für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben, das zuständige Bundesamt für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben in Köln. Wer länger durch den Blog klickt, der ahnt: Was Organisation und Struktur angeht, muss Gay von den Soldaten nicht mehr viel lernen.
Die Herausforderungen sind denn auch andere. Auf alle Rekruten und Rekrutinnen wartet ein Fitnesstest mit Dauerlauf, Sprints und Schwimmen. Sie lernen die Grundlagen des Völkerrechts ebenso wie das Marschieren im Gleichschritt als Teil des Formaldiensts. „Irgendwann ging mir das monotone ‚Links, zwo, drei, vier‘ in Fleisch und Blut über“, berichtet Gay.
Diese Disziplin war besonders wichtig auf dem Appellplatz, auf dem die Gruppe nach drei Tagen ihr Gelöbnis ablegt und feierlich erklärt: „Ich gelobe, der Bundesrepublik Deutschland treu zu dienen und das Recht und die Freiheit des deutschen Volkes tapfer zu verteidigen, so wahr mir Gott helfe.“ In den Gesprächen auf der Schießanlage in Idar-Oberstein beschreiben viele den Moment als emotional, auch weil bei der Feier Familienmitglieder dabei waren.
Ein 50-Jähriger, der nur – im Bundeswehrjargon – „Schütze Leif“ genannt werden soll, ist ebenfalls wegen des russischen Angriffskriegs hier. „Es erschüttert mich, was in der Ukraine passiert. Mein Sohn ist zehn Jahre alt, und ich will, dass der ebenso in Freiheit aufwächst wie ich und nicht den Preis dafür bezahlt, dass meine Generation sich hat einlullen lassen“, sagt er.
Eben hat er mehrere Runden mit dem Sturmgewehr G36 geschossen, liegend ebenso wie kniend, und stets unter den strengen Blicken der Ausbilder. Nun trinkt er Kaffee aus einem Metallbecher und berichtet, dass er in München Geschäftsführer einer Agentur sei und gerne jage. Er schätzt, dass zwei Drittel seiner Kollegen und Freunde seine Entscheidung gut finden: „Einige sind auch erschrocken, weil dadurch der Krieg plötzlich sehr nah kommt.“
Ihre Eltern seien besorgt gewesen, als sie von ihren Plänen erfuhren, erzählt Schütze Theresa. Sie fürchteten, dass ihre Tochter an Auslandseinsätzen teilnehmen muss, sagt die 28-Jährige. Seit sie ihnen aber erklärt habe, dass Reservisten dies aktiv wollen und einem Auslandseinsatz zustimmen müssen, seien die Eltern beruhigt. Theresa studiert interkulturelle Kommunikation und hat ein Praktikum beim Zentrum Operative Kommunikation der Bundeswehr gemacht, wo militärisches Führungspersonal für Auslandseinsätze vorbereitet wird. Danach wollte sie die Truppe besser kennenlernen.
Diese werde in der „linken Blase“ ihrer Uni sehr kritisch gesehen, aber ansonsten seien die meisten Reaktionen positiv. Das Programm sei anstrengender als gedacht, erzählt sie lachend: „Es ist aber erstaunlich, mit wie wenig Schlaf man durchpowern kann.“ Auch für sie war das Schießen nicht neu, denn im Rahmen des Sportangebots ihres Auslandsemesters in England war sie Mitglied in einem „shooting club“ und schoss regelmäßig mit der Pistole.
Gerade im Umgang mit Waffen herrschen strenge Regeln: Vor dem ersten Schuss wurden Gewehre und Pistolen gereinigt, zerlegt und zusammengesetzt. Zudem ging es zuvor in den „Schießkino“-Simulator. Und bei diesem Thema waren Ansagen und Konsequenzen besonders klar. „Ich musste Liegestütze machen, weil ich eine Patrone fallen ließ“, sagt der 21-jährige Schütze Konrad. Ungerecht findet er dies nicht, denn genau diese Strafe war angekündigt worden. Der raue Umgangston und die strenge Hierarchie bei der Bundeswehr waren für viele neu. „Es wird einem gesagt, was getan werden soll“, berichtet Schütze Konrad beim Mittagessen mit Gulaschsuppe und Wackelpudding. Dann muss er los, denn der Ruf „Kommando zügig“ beendet die Pause. Weil die Ausbilder selbst Reservisten sind, finden sie oft den passenden Ton, meint Daniel Gay. Sein Fazit: „Es gab keine Schikane oder ungerechtfertigtes Gebrüll.“
Verantwortlich für die Ausbildung ist Oberstleutnant Heisam El-Araj, Stabsoffizier für Reservistenangelegenheiten im Landeskommando Rheinland-Pfalz. Die Reservisten seien eine „mehr als sinnvolle Ergänzung der aktiven Armee“, sagt er, denn: „Zu einer einsatzbereiten Bundeswehr gehört auch eine einsatzbereite Reserve“. Im Kriegs- oder Spannungsfall hätte diese die Aufgabe, unter anderem Flughäfen oder Kraftwerke zu bewachen; „Objektschutz“ heißt der Fachbegriff. Auch das Nachschubwesen oder die Logistik würden Reservisten übernehmen.
Oberstleutnant El-Araj sieht den großen Vorteil des Programms darin, dass es so gelingt, „Leute, die mit beiden Beinen im Leben stehen, für die Truppe zu gewinnen“. Man wolle den Teilnehmenden „so viel soldatisches Handwerkszeug wie nötig vermitteln“. Die ehemals Ungedienten sind laut El-Araj nach ihrer Ausbildung, die insgesamt 164 Stunden dauert, für eine Heimatschutzkompanie vorgesehen – dort soll die militärische Ausbildung fortgesetzt und vertieft werden.
Allerdings sehen manche Leute aus der Bundeswehr das Programm auch kritisch. „So bekommen wir nicht die Leute, die wir benötigen“, sagt ein Reservist, der namentlich nicht genannt werden will und in einem anderen Bundesland in einer Heimatschutzkompanie ehemals Ungediente befehligt. Denen fehle es oft an der nötigen Fitness, stattdessen sei die „Waffenaffinität“ hoch. Teilweise kämen die Neulinge am ersten Tag mit teurer Ausrüstung, die sie selbst besorgt hätten, in die Kaserne.
„Wenn jemand mit 45 plötzlich Deutschland verteidigen will und sich vor allem fürs Schießen interessiert, werde ich skeptisch“, sagt er und äußert auch Zweifel an der Sicherheitsüberprüfung. Diese sei nicht mehr als ein Fragebogen, der zu Hause auszufüllen sei. Davon könne keine Rede sein, erklärt ein Sprecher des Militärischen Abschirmdienstes (MADMilitärischer Abschirmdienst): „Die Soldateneinstellungsüberprüfung stellt sicher, dass Personen, die bereits behördlich wegen Gewaltgeneigtheit, Extremismus oder Terrorismus aufgefallen sind, nicht an einer Kriegswaffe ausgebildet werden.“ Um den Fragebogen auszufüllen, muss sich jeder Bewerber identifizieren – und die Daten, auf die der MADMilitärischer Abschirmdienst zugreift, sind umfangreicher als jene aus dem polizeilichen Führungszeugnis.
Natürlich, gibt der kritische Reservist zu, sei noch vieles im Aufbau. Er fragt sich vor allem, ob es die Bundeswehr gewährleisten könne, dass möglichst viele Neu-Reservisten engagiert an möglichst vielen Übungen teilnehmen und ein zwischen den Bundesländern vergleichbares Niveau erreichen. Dieses sei gesunken, seit 2011 die Wehrpflicht abgeschafft wurde. Objektschutz klinge simpel, sei aber hochkomplex, gibt er zu bedenken – und die Reservisten und Reservistinnen seien dabei eben auch bewaffnet. Für ihn steht fest: Es brauche ein Dienstjahr, verpflichtend für Mädchen und Jungen, bei dem die Bundeswehr eine Option sei. Nur so könne über eine Generation hinweg etwas aufgebaut werden – nämlich dass die Armee ihr schlechtes Image abstreife und wieder breiter in der Gesellschaft verankert sei.
Eine Dienstpflicht für alle fände auch Daniel Gay sinnvoll: „Neben der Bundeswehr gibt es noch andere Institutionen, die dringend helfende Hände benötigen.“ Er hält es für unumstößlich, dass die Bundeswehr wachsen muss. Eine Wiedereinführung der Wehrpflicht sei aber angesichts geschlossener Kasernen und abgebauter Strukturen unmöglich. Nun freut er sich auf Teil zwei der Ausbildung, die im Juli stattfindet. Natürlich wird es ihn schmerzen, seine Frau und seine drei Töchter lange nicht zu sehen, aber er zweifelt nicht an seiner Entscheidung: „Wir brauchen die Bundeswehr, und die Bundeswehr braucht uns – für unser aller Sicherheit.“
Über den SZ-Autor
Matthias Kolb ist ein erfahrener Journalist, der in der Zentrale der Süddeutschen Zeitung in München tätig ist. Er ist auf Sicherheitspolitik spezialisiert und war von 2018 bis 2022 Korrespondent der SZ in Brüssel. Anfang 2023 haben wir erste Gespräche miteinander geführt und Herr Kolb hat uns schließlich im April bei unserer Ausbildung in Rheinland-Pfalz (Baumholder) besucht.
Reaktionen auf den Artikel
Weitere Reaktionen gerne über das Kontaktformular melden.
„Es wirkt bizarr: Da wollen Leute zu einer Armee, der Zehntausende Soldaten und Soldatinnen fehlen – und müssen dann ‚zäh und hartnäckig’ sein, um überhaupt kommen zu dürfen“ https://t.co/03LdOzaFQB
— Frank 🦣 Sauer (@drfranksauer) May 20, 2023
SZ reports on the German reserve - the applications for which has doubled this year. https://t.co/5M7dqMS1uO
— Ulrike Franke (@RikeFranke) May 20, 2023
An den anonymen Kritiker…
Es war eine Freude, mit Herrn Kolb zusammenzuarbeiten und ich denke, das Ergebnis kann sich sehen lassen. Ihm gelingt es meines Erachtens, die verschiedenen Dimensionen der Ausbildung darzustellen und auch skeptische Stimmen zu Wort kommen zu lassen. Auf die Kritik des anonymen Reservisten möchte ich im Folgenden eingehen.
(1) So bekommen wir nicht die Leute, die wir benötigen. […] (2) Denen fehle es oft an der nötigen Fitness, stattdessen sei die „Waffenaffinität“ hoch. (3) Teilweise kämen die Neulinge am ersten Tag mit teurer Ausrüstung, die sie selbst besorgt hätten, in die Kaserne. […] (4) Wenn jemand mit 45 plötzlich Deutschland verteidigen will und sich vor allem fürs Schießen interessiert, werde ich skeptisch. […] (5) (Es) sei noch vieles im Aufbau. Er fragt sich vor allem, ob es die Bundeswehr gewährleisten könne, dass möglichst viele Neu-Reservisten engagiert an möglichst vielen Übungen teilnehmen und ein zwischen den Bundesländern vergleichbares Niveau erreichen.
(1) „Wir bekommen nicht die Leute, die wir benötigen.“
Dem möchte ich entgegnen: Welche Leute brauchen wir denn? – Gerade in den kämpfenden Einheiten ist körperliche Fitness und ständiges Üben nicht nur wichtig, sondern überlebensnotwendig (für sich selbst und die Kameraden). In der Ausbildung lernen wir die ersten Schritte, aber weder die anderen noch wir selbst dürfen erwarten, dass wir nach dieser kurzen Zeit schon ein voll ausgebildeter Supersoldat sind. – Aber: Wir sind Reservisten. Das heißt, wir haben das Herz am rechten Fleck und sind auch in der heutigen Zeit hoch motiviert. Während die Bundeswehr weiter schrumpft, steigt die Zahl der Ungedienten (wenn auch in kleinerem Rahmen) stetig an. Wir werden für die Reserve ausgebildet – zunächst in der Grundausbildung und dann in der Heimatschutzkompanie – um die Aktiven zu entlasten, nicht zu ersetzen, und um Mittler zu sein. Wenn es uns als Multiplikatoren, die wir aufgrund unserer Lebens- und Berufserfahrung sind, dann noch gelingt, die Bundeswehr wieder in die Mitte der Gesellschaft zu rücken, dann ist das Programm schon eine gute Investition. Ergänzend möchte ich noch sagen: Wenn die Bundeswehr den zivilberuflichen Hintergrund der Reservisten besser in das eigene System integrieren würde, dann könnten die Reservisten auch das tun, was sie wirklich können – auch zum Wohle und Nutzen der Bundeswehr.
(2) „Denen fehle es oft an der nötigen Fitness, stattdessen sei die „Waffenaffinität“ hoch.“
Jeder, der die Ausbildung durchläuft, muss die Anforderungen (wie IGFIndividuelle Grundfertigkeiten, KLFKörperliche Leistungsfähigkeit, BFTBasis Fitness Test) erfüllen – wir sprechen also wieder von der gleichen Messlatte wie für jeden Reservisten. Ist diese Messlatte zu niedrig? Vielleicht. Aber dann sollte man meines Erachtens nicht mit zweierlei Maß messen. Dennoch ist mir persönlich bewusst, dass ich mehr für meine Fitness tun muss, klar. – Den Punkt „Waffenaffinität“ – was so viel bedeutet wie „die kommen nur zum Ballern“ – sehe ich in unserem Jahrgang überhaupt nicht. Es mag ja sein, dass es solche Kameraden gibt und eine gewisse Affinität gehört auch dazu, aber einen „Rambo“ haben wir bei uns nicht. Es ist auch kein Geheimnis, dass DVAGsDienstliche Veranstaltung, bei denen es ums Schießen geht, in der Regel besser besucht sind als VVAGs mit sicherheitspolitischen Themen… – Aber auch das gilt für die gesamte Reserve und nicht nur für die Ungedienten.
(3) „Teilweise kämen die Neulinge am ersten Tag mit teurer Ausrüstung, die sie selbst besorgt hätten, in die Kaserne.“
Ich kann hier beide Seiten sehr gut verstehen. Auch wenn bei uns in der Grundausbildung noch niemand mit einem selbst beschafften Plattenträger oder ähnlichem – außer zusätzlicher Unterwäsche – aufgetaucht ist. Aber ich kann mir gut vorstellen, dass es diese Fälle gibt – und ich würde mir auch gerne ein Chest RigAusrüstungsgurt, Tragesystem zulegen. Schaut man sich Fotos von Einsätzen an ( sogar offizielle Werbefotos), sieht man keine einzige Lochkoppel. Aktive Soldaten äußern sich abfällig über die Ausrüstung und rüsten sich selbst aus („Train as you fight“) – da liegt es auf der Hand, dass man, wenn man sich für etwas begeistert, auch bereit ist, Geld in die Hand zu nehmen, egal was die Vorschriften sagen. Das Thema „eigene Ausrüstung“ ist also ein Kritikpunkt der sich aus meiner Sicht weder an die aktive Truppe, noch die Reserve richtet, sondern an das Planungsamt der Bundeswehr – will heißen durch das MOBASTModulare Ballistische Schutz- und Trageausstattung Soldat, sollte sich das Problem erledigt haben. – Ich für meinen Teil habe mich entschieden, keine eigene Ausrüstung zu beschaffen, weil es sich offenbar für einen Schützen nicht gehört und aus Respekt vor denen, die so lange unter der dienstlich gelieferten Ausrüstung leiden mussten.
(4) „Wenn jemand mit 45 plötzlich Deutschland verteidigen will und sich vor allem fürs Schießen interessiert, werde ich skeptisch.“
Vorab: Gut so, dass der Kamerad, da skeptisch wird. (Aber auch hier vergl. Punkt 2 – siehe oben.)
(4a) Auch wenn ich noch keine 40 bin, finde ich mich im ersten Halbsatz wieder. Was soll ich als „Spätzünder“, wie uns die SZ nennt, dazu sagen? Besser spät als nie – oder wäre „gar nicht“ besser? Der Altersdurchschnitt unserer Heimatschutzkompanien liegt, soweit ich weiß, irgendwo bei 40 Jahren, bei der Reserve wahrscheinlich noch ein Jahrzehnt höher. Aber ich bin hier, weil ich glaube, dass jemand etwas tun muss. Ich muss es nicht wegen mir machen – es ist ja schließlich kein Hobby, aber ich tue es, weil es anscheinend nicht genug gibt und ich helfen möchte. Ich sehe es als meine Pflicht an, und das ist unabhängig vom Alter. – Aber ja, ich gebe zu: Bei mir hat es etwas länger gedauert – aber immerhin hat es gezündet. – Aber reißen wir das Zitat nicht ganz aus dem Zusammenhang, es hat noch einen anderen Halbsatz, der sich wieder auf das „Schießen“ bezieht. (4b) Ich stimme dem Kritiker insofern zu, dass das Schießen nicht im Vordergrund stehen darf. Man muss sich aber auch bewusst sein, dass der Einsatz von Waffen wohl die Komponente ist, die den Unterschied zum „THW in Grün“ ausmacht. Wer sich für die Gesellschaft engagieren möchte hat eine Vielzahl von Möglichkeiten (Feuerwehr, DLRG, THW, Rotes Kreuz, Bahnhofs Mission, kirchliche Träger usw. usf.) – wer sich für die Bundeswehr bewirbt entscheidet sich hierfür bewusst, weil es ums Verteidigen gegen einen Aggressor geht – und das ist nun mal nur mit „Schießen“ zu machen.
(5) Vieles im Aufbau, Teilnahme an Übungen, vergleichbares Niveau
Auch wenn in diesem separaten Zitat einige Aspekte enthalten sind, möchte ich nicht auf jeden Unterpunkt eingehen, da mir dazu noch die Erfahrung fehlt. Es ist richtig, dass sich vieles noch im Aufbau befindet und auch ich bin in diesem Punkt skeptisch. Im Moment lebt das ganze Programm vom Engagement aktiver und engagierter Reservisten – die Unterstützung von ganz oben hält sich, soweit ich weiß, in Grenzen. Das führt dazu, dass wir einen Flickenteppich haben und fast jedes Bundesland sein eigenes Konzept hat. Das hat auch seine Vorteile, aber es ist schwer, sich zurechtzufinden – vor allem, wenn man noch nicht so viel mit der Bundeswehr zu tun hatte. Der skeptische Reservist fragt: Kann die Bundeswehr gewährleisten, dass viele der neuen Reservisten auch zu den Übungen kommen? – Ob? Ich frage mich eher „wie?“, denn „ob“, auch wenn das jetzt Spitzfindigkeiten sind, lässt sich nur mit „ja“ oder „nein“ beantworten – und wenn die Frage so gestellt würde, also mit „ob“, dann könnte ich sie auch gleich mit „nein“ beantworten. Wie soll die Bundeswehr das sicherstellen, ohne die Reservisten direkt zur Teilnahme an den Übungen zu verpflichten – was ja dem Gedanken der Reserve völlig zuwiderlaufen würde? Die Frage müsste aus meiner Sicht also viel mehr lauten „wie“ oder besser „was kann die Bundeswehr leisten“? Obwohl ich nur spekulieren kann, versuche ich hier eine Antwort zu geben – auch wenn die Frage an die Bundeswehr gerichtet ist. Die Bundeswehr kann die „Loyalität“ erhöhen, indem sie die „Kameradschaft“ stärkt. Mit einem seltenen Treffen alle paar Monate – so meine Einschätzung – kann Kameradschaft nicht wachsen und gedeihen. Es braucht schon etwas mehr Pflege. Wenn diese Kameradschaft dann gewachsen ist, dann steigt neben dem Bedürfnis der Pflichterfüllung auch die Motivation des kameradschaftlichen Wiedersehens. Die Truppe bekommt ein Gesicht, einen Namen – und ihre Geschichten. Mit vier Mal im Jahr ist es aus meiner Sicht nicht getan. (Deshalb finde ich es persönlich auch wichtig, sich einer aktiven Reservistenkameradschaft anzuschließen). – Zum Niveau kann ich absolut nichts sagen, außer dass es grundsätzlich in der Dienstvorschrift festgelegt ist und erfüllt werden sollte… Aber für eine Beurteilung fehlt mir einfach die praktische Erfahrung.