To Whom It May Concern
Für den Jahrgang 2024 haben sich über 700 Ungediente gemeldet. Ein gewaltiger Zuwachs von mehr als 200 angehenden Reservistinnen und Reservisten gegenüber 2023 und mehr als das Dreifache von 2022. Wie kommt das? Nun einerseits gewinnt die „Ausbildung Ungedienter“ in der Gesellschaft zunehmend an Bekanntheit und selbstverständlich hat auch die aktuelle Sicherheitslage in Europa uns bewusstwerden lassen, wie wichtig eine wehrhafte Reserve ist. Ein weiteres Indiz: Die Bundeswehr ist so beliebt wie in den letzten 20 Jahren nicht. Eine aktuelle Forsa-Umfrage (Januar 2024), in welchen Institutionen wie Ärzte, Polizei, Banken etc. aufgeführt werden, sieht das Vertrauen in die Bundeswehr gegenüber dem Vorjahr um 7 Plätze gestiegen. Die Bundeswehr genießt folglich ein größeres Vertrauen als beispielsweise Gewerkschaften, Bürgermeister oder der Rundfunk. Das ist natürlich einerseits ein mächtiger Image-Gewinn, aber andererseits zeigt es auch, wie wichtig uns Deutschen die Bundeswehr ist oder geworden ist. Nicht zuletzt, würde ich vermuten, spielt auch die Personalie Boris Pistorius als anpackender Verteidigungsminister eine wichtige Rolle: seit Monaten ist er der beliebteste Politiker des Landes.
Auch wenn es groß auf jeder Seite des Blogs steht, so möchte ich es an dieser Stelle nochmal ganz bewusst betonen: es handelt sich bei diesem Beitrag um meine persönliche Meinung.
Dieser Zuwachs reflektiert das steigende gesellschaftliche Ansehen der Bundeswehr und das Bewusstsein für die Wichtigkeit einer starken Reserve, wird jedoch durch bürokratische Hürden und mangelnde Ausbildungskapazitäten gehemmt.
Nach diesen Lobeshymnen komme ich jedoch nicht umhin auch die Schattenseiten zu beleuchten: wir bleiben weit unter dem was wir können zurück! Ich freue mich über jeden neuen Reservisten, jede neue Kameradin und jeden neuen Kameraden, doch ist 700 – mit Verlaub – eine klägliche Zahl, wenn man betrachtet, wie groß das Potential tatsächlich wäre. 700 Kameraden gewinnt die aktive Truppe innerhalb von zwei Monaten (vergl. z.B. Oktober und November 2023, Quelle: BMVg). Doch damit nicht genug: 700 Kameraden bedeutet, verteilt auf die 16 Landeskommandos, ein jährlicher „Output“ von gerade einmal durchschnittlich 43 Reservistinnen und Reservisten.
Und diese 700 sind bereits ein Kraftakt. Leider. Denn es liegt nicht an der Anzahl der willigen Bewerberinnen und Bewerber, sondern daran, dass sie nicht in der Bundeswehr ankommen. Auch dies hat wiederum mehrere Gründe – und vorneweg: es wäre viel zu einfach auf das BAPers zu schimpfen, denn an denen liegt es kaum. Vielmehr haben wir uns in den letzten Jahrzehnten in einen bürokratischen Prozess verliebt, statt das eigentliche Ziel im Auge zu behalten. Vorschriften, Auflagen und Prozesse hemmen uns und wir stellen Hürden auf, die eigentlich gar nicht sein müssten. In seinem Vortrag bei der RAG 4.0 vom 16.01.2024 bekräftigte GenLt. Laubenthal erneut, dass er „Ungediente innerhalb von 7 Tagen eingestellt“ wissen möchte. Ein entsprechendes Pilotprojekt befindet sich aktuell in der Evaluationsphase und soll bis Februar 2024 abgeschlossen sein. – Das ist ein ambitioniertes Ziel, wenn man bedenkt, dass es bei vielen Kameraden ein ganzes Jahr dauert bis alles wirklich in trockenen Tüchern ist. Viele Kameradinnen und Kameraden wissen auch noch nicht wann und wo ihre Ausbildung 2024 überhaupt stattfinden wird. Es gibt Landeskommandos, welche Sorgen haben, dass sie ihre Ausbildungsplätze gefüllt bekommen und eine einstellige (!) Teilnehmerzahl befürchten, andere wiederum kommen an ihre Kapazitätsgrenze und führen Wartelisten ein. Wieder andere scheuen sich davor Wartelisten zu führen, weil nicht sicher ist, dass auch 2025 erneut eine Ausbildung angeboten werden kann. Man sieht: wir haben eine äußerst heterogene Ausbildungslandschaft. Was, so wage ich zu behaupten, daran liegt, dass das Ausbildungsprogramm für Ungediente immer noch recht jung ist – und – ich zitiere erneut unseren Stellvertretenden Generalinspekteur: „Wir haben die Reserve die letzten 20 Jahre liegen lassen.“
Wir müssen Aufklärung in der Gesellschaft betreiben und über die Ausbildung für Ungediente berichten – aber mit steigenden Bewerberzahlen allein ist es bei weitem nicht getan: denn ohne die entsprechenden Ausbildungskapazitäten werden wir nur eines erreichen: frustrierte Bewerber, negative Multiplikatoren. Auch mir ist dies leider erst im letzten Jahr klar geworden: ohne politische Unterstützung, den Willen vorausgesetzt, wird es uns nicht gelingen mehr Ungediente zu Reservisten auszubilden.
Es mangelt auch hier an vielem: An erster Stelle den Ausbildungskapazitäten – in der Regel wird die Ausbildung durch Reservisten durchgeführt, nach dem Motto „Reservisten bilden Reservisten aus“. Dieses System hat sich bewährt doch kommt es an seine Grenzen, denn es setzt voraus, dass man trotz des unheimlichen Verwaltungsaufwandes willige Kameradinnen und Kameraden findet, die bereit sind ihre knappe Zeit dafür aufzuwenden. Dazu gehört viel Herzblut.
Es mangelt jedoch nicht nur an Personal sondern auch an Material und Infrastruktur. In beiden Punkten ist die Reserve auf die Kooperation der aktiven Truppe angewiesen. Stellt sie die Waffen zur Verfügung, die für die Ausbildung erforderlich sind? Übt gerade eine aktive Einheit auf dem Truppenübungsplatz oder hat die Kaserne blockiert? Viele Faktoren können die Ausbildungsvorhaben versalzen und wirft in logischer Konsequenz die Frage auf, ob man den Aufwand überhaupt weiterhin betreiben möchte. Gelingt es den ausbildenden Landeskommandos bzw. Heimatschutzkompanien nicht die ausgebildeten Reservisten in ihre Kompanie zu integrieren, dann war alles vergebene Liebesmühe.
Ich sehe anhand meines Traffics und den Interaktionen auf der Website, dass die Nachfrage ungebrochen hoch ist – von einem abklingenden „Hype“ kann keine Rede sein und doch stoßen wir an die genannten Grenzen.
Was kann also die Lösung der Misere sein? – Ich persönlich, frei von Expertise, sehe hier diese Ansatzpunkte:
- Verdammt nochmal redet miteinander!
- Zentralisierte Ausbildungscamps
- Outsourcen an den Verband
- Ganzheitliches Handeln
Ich möchte diese Lösungswege gerne etwas ausführen – und weiß natürlich nicht, ob sie nicht ganz neue Probleme aufwerfen, an welche ich, aufgrund meiner fachlichen Beschränktheit, nicht gedacht habe.
Ansatz 1: Verdammt nochmal redet miteinander! aka „Kommunikation“ – Ein Netzwerken der Landeskommandos könnte dazu beitragen, dass die Ausbildungslandschaft homogenisiert wird. Will heißen: Ausbildungsinhalte und -arten werden vereinheitlicht, dass alle am Ende das Gleiche können. (Warum schießt man in Baden-Württemberg keine P8Pistole und in Rheinland-Pfalz wird man neuSAK ausgebildet?) Ich finde es gut, dass die Module – in ihrer Dauer – unterschiedlich angeboten werden, beispielsweise gibt es LKdoLandeskommando die ihre Ausbildung über mehrere verlängerte Wochenenden verteilen, andere wiederum machen nur zwei lange Blöcke. Beides hat seine Vor- und Nachteile, die insbesondere abhängig sind vom Zivilleben der Ausbilder und Auszubildenden. Warum gibt es jedoch LKdoLandeskommando die sich quasi vor Ungediente nicht mehr retten können und andere LKdoLandeskommando haben zu wenige? Aus meiner Sicht: ein Kommunikationsproblem. Oder „Befindlichkeiten“ – aber das will ich natürlich nicht hoffen… Gehen wir also von einem deutschlandweiten „Ausbildungsatlas“, einem bundesweit einheitlichen System, aus, dann kann man die Bewerber nicht nur durch schieben sondern sie können auch, wenn sie z.B. bei einem Modul aus gesundheitlichen Gründen ausfallen die Ausbildung an anderer Stelle fortsetzen. In vielen Bundesländern sind die Module weder Kompatibel mit anderen, noch mit dem folgenden Jahrgang – d.h. ein Modul verpasst bedeutet, dass man im nächsten Jahr bei Null anfängt. (Wenn ein hochmotivierter Bewerber die Wahl hat, wo er seine 20tägige Ausbildung absolvieren möchte: zwei Stunden von seinem Wohnort entfernt, dafür über ein Jahr warten, ob es dann klappt unklar, oder in zwei Monaten, dafür 4 Stunden mit dem Zug fahren – wofür würde er sich wohl entscheiden?)
Ansatz 2: Zentralisierte Ausbildungscamps aka „Bootcamps“ – Die Idee dahinter ist simpel: es gibt mehrere Ausbildungsstandorte in Deutschland (z.B. in jeder Himmelsrichtung eines). Diese Camps können das ganze Jahr für Ausbildungsvorhaben genutzt werden. Jeder Ausbildungsblock geht beispielsweise 2-3 Wochen und dann wiederholt sich dies jeden Monat aufs neue. Sollte man aus beruflichen oder gesundheitlichen Gründen ausfallen, dann kann man jederzeit wieder einsteigen. Easy. Auch für die Ausbilder ist es recht einfach, denn es gibt mehr oder minder eine feste Crew, die das Camp das ganze Jahr betreut. Diese Kameradinnen und Kameraden leisten eine „Langzeit-RDL“ ab und werden zusätzlich – und das fände ich nett – von den Heimatschutzkompanien unterstützt. Beispielsweise können Gruppenführer, Ausbilder, Hilfsausbilder von den Heimatschutzkompanien gestellt werden – damit man für die eigene Kompanie werben kann und die Ungedienten schon mal ein Gesicht zu sehen bekommen. (Früher, zu Wehrpflichtzeiten, gab es eine klare Trennung zwischen Grundausbildung und der anschließenden Verwendung.) Voraussetzung für diesen Ansatz ist natürlich der politische Wille: es müssen hierfür Ausbildungslager bereitgestellt werden. Dies können Kasernen sein oder aber, was noch mehr Charme hätte, Feldlager wie beispielsweise das Lager Kurpfalz in RP. Möglicherweise gibt es auch den ein oder anderen Ausbildungsstandort, der kaum genutzt wird…
Ansatz 3: Outsourcen an den Verband – Dieser Ansatz lässt sich gut und gerne mit den anderen Ansätzen verheiraten. Der Reservistenverband verfügt mit seinen tausenden von unbeorderten Mitgliedern über geeignete Ausbildungskapazitäten und Manpower. Sei es durch einen Erst-Helfer-Alpha-Kurs vor Ort, Karte & Kompass oder durch virtuelle eLearning-Kurse im Format von DARes. Der Verband bietet bereits jetzt seinen Mitgliedern und Interessierten Möglichkeiten der Weiterbildung, die man mehr nutzen könnte, wenn man sich von den Vorurteilen und Klischees („die 3 S der Reserve“), welche in Teilen natürlich nicht unberechtigt sind, löst und sich auf die „Guten“ fokussiert.
Ansatz 4: Ganzheitliches Handeln aka „wettbewerbsfreie Zusammenarbeit“ – Wettbewerb hat sicherlich seine Berechtigung und auch positive Effekte – doch warum denken wir bei der Ausbildung für Ungediente nur an den Heimatschutz bzw. die Territoriale Reserve und nicht an die anderen OrgBereiche bzw. Dimensionen der Bundeswehr. (In meinem Ausbildungsjahrgang gab es viele Ungediente mit ziviler Expertise: Professoren, Doktoren, Ingenieure, Kaufleute, Anwälte, Ärzte, Handwerker, IT-Nerds u.v.m.) Warum soll jemand der beispielsweise einen medizinischen Hintergrund hat nicht zu SANSanitäter und ein Tech-Kellerkind zu CIR, wenn er oder sie es denn möchte? (In der Praxis passiert das auf Eigeninitiative ohnehin bereits.) Im Gegenzug sollten sich diese OrgBereiche bzw. Teilstreitkräfte natürlich in die Ausbildung einbringen. Wir müssen „Bereichs-Egoismen“ und Befindlichkeiten überwinden! Das ist wahre Stärke.
All dies ist gewiss nicht der Weisheit letzter Schluss – aber ich wollte diesen Artikel nicht beenden ohne eine Lösung angeboten zu haben. Alle Ansätze haben ein Ziel: den Flaschenhals Ausbildungskapazitäten zu weiten, damit mehr motivierte Ungediente in der Reserve ankommen. Abschließend noch eine kleine Milchmädchen-Rechnung, wenn man alle genannten Ansätze miteinander kombinieren würde: Durch eLearning und Unterstützung des Verbandes lässt sich der Präsenzunterricht auf zwei Wochen reduzieren. 10 Monate im Jahr läuft der Betrieb im Ausbildungcamp, es gibt seiner Art insgesamt vier Stück. Pro Camp werden zeitgleich 50 Reservistinnen und Reservisten ausgebildet. Macht 400 Reservisten im Monat – und 4.000 im Jahr! In fünf Jahren könnten wir so 20.000 neue Reservisten haben. Zu ambitioniert? Zu viele? Mag sein. Aber weniger geht immer – und wir haben ja immer noch unsere Bürokratie die uns ausbremsen wird.
Dieser Beitrag basiert ausschließlich auf öffentlichen Quellen und allgemein zugänglichen Informationen – da ich natürlich kein Interesse daran habe, Dinge auszuplaudern, die als Verschlusssache gelten. Es sei angemerkt, dass diejenigen, die „hinter die Zahlen“ blicken können, sicherlich ein noch konkreteres Bild von der Realität haben, als wir es uns machen können. Die Redewendung, derer sich auch GenLt. Laubenthal bediente, stammt nicht von ungefähr: „Traue keiner Statistik, die du nicht […]“.
In diesem Sinne. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Mit kameradschaftlichen Grüßen
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PS: Vielen Dank an die Kameraden OTL R. und OTL S. für das konstruktive Feedback und die Ergänzungen!