Von September 2023 bis gestern (18.12.2024) war ich Reservistendienstleistender in der Projektgruppe „antreten.jetzt“ des Territorialen Führungskommandos der Bundeswehr. Unser Auftrag war kein geringerer als die Erhöhung der Antrittsstärke der Territorialen Reserve (kurzum des Heimatschutzes). Ein Projekt das uns, insbesondere aber auch mir persönlich, sehr am Herzen lag und das auch den Kerngedanken von Ungedient.de, dem KÜMMERN, vollkommen entsprach.
Im Gegensatz zu diesem privat geführten Blog war das Projekt allerdings „professionell“ in der Struktur der Bundeswehr verankert. Mit (in Spitzenzeiten bis zu) 12 Reservisten unter der Führung eines aktiven Oberstleutnants und einer monatlich tagenden Arbeitsgruppe mit BAPersBwBundesamt für das Personalmanagement der Bundeswehr glaubte man sich auf einem guten Weg zu befinden. Wir hatten die Notwendigkeit erkannt, aber auch das Hoffnung etwas bewegen zu können. Beginnend mit dem Tag der Bundeswehr 2024 und ohne große Kampagnen, Social Media Aktivitäten oder sonstige Maßnahmen registrierte man über 2.100 Interessierte (Ungediente und Kameraden mit Vordienstgrad).
Dazu muss man wissen: „antreten.jetzt“ war kein großes, mit Werbeetat ausgestattetes Personalgewinnungsprojekt und trotzdem wurde unsere kleine, versteckte Unterseite auf Bundeswehr.de gefunden – weil es nun mal einfach keine andere zentrale Anlaufstelle für den Heimatschutz oder die Ausbildung Ungediente gibt. Bearbeitet, oder besser gesagt, gekümmert hat man sich um die 2.100 Interessierten aus der Not heraus mit Hilfe von gigantischen Exceltabellen und verschachtelten Outlook-Unterordnern, weil die im Zivilen bewährten CRM-Systeme nicht zur Verfügung standen.
2.100… die traurige Summe vieler Einzelschicksale, deren steinigen und ungewissen Weg in die Reserve der Bundeswehr ich tagtäglich miterlebe – auch in unserer „Ungedient.de-Selbsthilfegruppe“.
Ist „antreten.jetzt“ gescheitert? Ich persönlich sage „Nein!“, denn die Projektevaluation zeigt Schwarz auf Weiß auf, was Ungediente (und Reservisten gleichermaßen) erleben und durchmachen müssen um unseren Land dienen zu dürfen. Trotzdem fühlt sich dieser „Erfolg“ für uns Projektgruppenmitglieder natürlich nicht wie einer an, denn wir sind angetreten um uns zu kümmern – doch auch wir haben den Kampf gegen die Windmühlen verloren… – Ein Zitat unseres amtierenden Verteidigungsministers Boris Pistorius (SPD), der an die gesamtgesellschaftliche Verantwortung appellierte:
Wir brauchen einen Mentalitätswechsel. In der Truppe, da ist er in vollem Gange. Das merke ich zum Beispiel, wenn wir über die Brigade Litauen sprechen. Wir brauchen ihn im BMVgBundesministerium der Verteidigung, da haben wir die Weichen gestellt. Wir brauchen ihn aber auch in der gesamten Gesellschaft, und wir brauchen ihn auch in der Politik.(…)
Aber, ganz wichtig, auch der Mentalitätswechsel in der Gesellschaft ist richtig. Wir müssen uns wieder an den Gedanken gewöhnen, dass die Gefahr eines Krieges in Europa drohen könnte, und das heißt, wir müssen kriegstüchtig werden, wir müssen wehrhaft sein und die Bundeswehr und die Gesellschaft dafür aufstellen. (Quelle: ZDF 10/2023)
Das Projekt „antreten.jetzt“ wurde nun beendet.
Was mit den über zweitausend Interessierten passiert? Unklar.
(Damit es keine Missverständnisse gibt: Ungedient.de bleibt selbstverständlich bestehen und wird, wie auch bislang, als ehrenamtliches Projekt fortgesetzt!)
Nachfolgend eine kurze Einordnung des Projektleiters von „antreten.jetzt“:
I. Kernaussage
- Die sicherheitspolitischen Umstände haben sich für die deutsche Bevölkerung in der letzten Dekade zunächst kaum merklich, mit dem Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine jedoch deutlich, verändert.
- Der Bundesminister der Verteidigung hat als Folge daraus das Ziel der Kriegstüchtigkeit Deutschlands ausgerufen. Alle Ressorts wurden durch den Operationsplan Deutschland aufgerufen, an diesem Ziel mitzuarbeiten.
- Seiner Bewertung nach ist es unerlässlich, dass sich das Ziel nur erreichen lässt, wenn Staat und Gesellschaft sich gemeinsam in der Landes- und Bündnisverteidigung engagieren.
II. Bewertung
- Nach der Aussetzung der Wehrplicht zum 1. Juli 2011 ist die Bundeswehr deDiensteintritt facto eine Freiwilligenarmee und spielt in der Gesellschaft kaum noch eine Rolle. Es sei denn, dass die Soldatinnen und Soldaten im Rahmen des Katastrophenschutzes zur Unterstützung der Blaulichtorganisationen und des Technischen Hilfswerks herangezogen werden.
- Mit dem 24. Februar 2022 sieht sich Europa und Deutschland einer Situation gegenüber, mit der die wenigsten der politisch Verantwortlichen nach dem Ende des II. Weltkriegs gerechnet hätten.
- Mit einem Umfang der Bundeswehr von seinerzeit rund 180.000 Männer und Frauen, mit einer Struktur, die auf eine Interventionsarmee zugeschnitten wurde, waren die Aufgaben in der Landes- und Bündnisverteidigung (LV/BV) nicht zu erfüllen.
- Bei einem LV/BV-Szenario und einem damit verbundenen Aufwuchses der aktiven Truppenteile der Bundeswehr, muss „die Reserve“, sowohl den neuen Strukturen für die Kriegstüchtigkeit folgen, als auch im Umfang erheblich „mitwachsen“, um für die aktiven Verbände eine adäquate Verstärkung darstellen zu können.
- Dazu bedarf es in der Hauptsache eines sehr großen gesamtgesellschaftlichen, interdisziplinären Engagements und Rückhalts, damit die zahlreichen Aufgaben durchausreichend zur Verfügung stehenden Personals durchhaltefähig getragen werden können.
- Neben den Reservistendienstleistenden (RDLReservistendienst Leistende) in den Teilstreitkräften (TSK) kommt mit der Schwerpunktbildung der Reserve auf die LV/BV auch auf den Heimatschutz eine wichtige Facette für die RDLReservistendienst Leistende in ihren Reservistendienstleistungen (RDReservistendienst) zu. Der Heimatschutz wird bislang neu aufgestellt und den Landeskommandos, unterhalb des Territorialen Führungskommandos der Bundeswehr (TerrFüKdoBw), unterstellt. Zum 1. April wechselt die Unterstellung des Heimatschutzes zur TSK HEER.
- Um Erkenntnisse in den Feldern Personalgewinnung, Prozessabläufe und Regelungsmanagement im Bereich des Heimatschutzes zu gewinnen, wurde eine Projektgruppe mit dem Namen „antreten.jetzt“ implementiert und fachlich sowie truppendienstlich dem Abteilungsleiter J1 im TerrFüKdoBw unterstellt. Die Projektgruppe bestand bis auf den Leiter der Projektgruppe (Oberstleutnant A15) ausschließlich aus RDLReservistendienst Leistende.
- Das Projektteam wurde aufgrund der individuellen Fähigkeiten der RDLReservistendienst Leistende ausgesucht. Das Vorgehen hat sich bewährt, weil darüber hinaus auch auf die jeweiligen Erfahrungen aus unterschiedlichen, gesellschaftlichen und beruflichen Bereichen zurückgegriffen werden konnte.
- Für das Projekt wurden seit dem offiziellen Projektbeginn am 01.07.2023 insgesamt 3394 RD-Tage verbraucht. 15 RDLReservistendienst Leistende waren seit Beginn insgesamt für das Projekt im überschlagenen Einsatz tätig.
- Im fachlichen Fokus des Projekts standen:
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- Personalgewinnung mit Schwerpunkt über digitale Medien
- Standardisierung von Prozessen sowie Vorschläge zum Abbau bürokratischer Herausforderungen
- Prozessoptimierung und -automatisierung
- Virtuelle Informationsveranstaltungen
- Anpassung des Regelmanagements an die neuen Herausforderungen bei LV/BV
- Allgemeine Impulse aus der Sicht der Zielgruppe „Gesellschaft“
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- Gefordert wird durch die Politik und auch von Spitzendienstgraden in der Bundeswehr ein größeres „gesamtgesellschaftliches Engagement“ für die Streitkräfte im Allgemeinen und den Heimatschutz im Besonderen.
- Schon zu Beginn des Projekts konnte die Feststellung gemacht werden, dass das gesamtgesellschaftliche Engagement nicht erst durch die Bundeswehr „geweckt“ werden muss. Die Bereitschaft im Heimatschutz sein Land mit der Waffe zu verteidigen war und ist weiterhin, wegen der sicherheitspolitischen Entwicklungen, groß!
- Fakt ist, dass wir, die Bundeswehr, es mit dem derzeitigen Regelwerk, der großen Zahl an Schnittmengen von Akteuren in der Reserve sowie unangepassten Prozessen, es nicht schaffen, diese Interessentinnen und Interessenten im großen Stil in das System Streitkräfte zu holen. Irgendwo findet sich immer ein „Geht nicht, weil…“. Das hat die Projektgruppe u.a.in der Evaluation dargestellt.
- Was das Regelwerk angeht, haben sich zwei Volljuristen die „Vorschriften“, selbstverständlich aus Sicht der potenziellen Bewerberinnen und Bewerber, genau angesehen. Sie haben kommentiert und Empfehlungen für Veränderungen ausgesprochen. Der Fokus lag auf der Frage: „Wie können wir schnell, gut und umfangreich Verteidigerinnen und Verteidiger für den Heimatschutz in die Verbände bringen?“. Das gegenwärtige Regelungsmanagement kann aus unserer Sicht nicht mehr reformiert werden. Die Zeit dazu ist unserer Bewertung nach nicht da. Die Regelungen müssen von Grund auf neu, klar und zielorientiert aufgebaut werden.
- Der gegenwärtigen Sachzwänge, die meist zur Antwort „geht nicht, weil…“ führen, ist sich die Projektgruppe voll bewusst. Sie können jedoch nicht unwidersprochen bleiben, wenn wir uns mit der Erlangung der Kriegstüchtigkeit beeilen müssen. Die selbst erzeugten Sachzwänge sind einer zügigen Reaktion auf die militärische Bedrohung durch Russland hinderlich.
- Die vorliegende Evaluation ist umfangreich. Auch schon aus dem Grunde, da das Projektformal am 31. Dezember 2024 endet und eine Überführung in die TSK HEER zum 1. April2025 offen ist, dürfen die gesammelten Erkenntnisse nicht verloren gehen.
- Mittlerweile sind viele Erkenntnisse, weshalb wir uns im Umsetzen so schwertun, in allen Ebenen der Streitkräfte bekannt. In dieser Evaluation sind die wichtigsten der Fakten zusammengetragen worden. Die Bewertungen sind natürlich „fischzentriert“ und nicht „anglerzentriert“. Das Ziel eint uns jedoch wiederum alle, eine kriegstüchtige Bundeswehr. Die Bereitschaft der Gesellschaft ist schon da, mit mehr Engagement, als unser System derzeit verkraftet.
- Die Projektgruppe „antreten.jetzt“ ist nicht als Controller gedacht gewesen oder aufgetreten, oder um anderen, am Thema Reservistendienst beteiligten Dienststellen, Schlechtleistungen zu attestieren. Vielmehr sollte der unverstellte Blick aus der Zielgruppe für den Heimatschutz dargestellt und Lehren daraus gezogen werden. Schwächen werden allerdings klar angesprochen.
- Die „Neue Wehrpflicht“ wird ungewollt zu einer Gefahr des „gesamtgesellschaftlichen Engagements“. Wir könnten schon jetzt „Erfolge“ produzieren, wenn es darum geht, Zahlen mit an der Waffe ausgebildeter Bürgerinnen und Bürger im Heimatschutz zu nennen. Wir könnten schon jetzt „in Ruhe“ RDLReservistendienst Leistende ausbilden, bevor die Zeiten (noch) hektischer werden und dann an der Gründlichkeit in der Ausbildung gespart werden muss. Viel mehr warten wir jetzt auf den Sommer, in der Hoffnung, dass die „Neuen Wehrpflicht“, ein Erfolg wird. Ein sowohl als auch würde viele in der Gesellschaft ruhiger schlafen lassen.
- Dem TerrFükdoBw gilt Dank, für die Idee, eine derartige Projektgruppe realisiert zu haben. Für die aktiven Soldatinnen und Soldaten bedeutete die Anwesenheit der Projektgruppe keine Erleichterung. Im Gegenteil, die Projektgruppe bedeutet mehr Arbeit. Mehr Arbeit in der Administration und einen höheren Zeitaufwand für Vorgesetzte, die ein Sachgebiet mehr zuführen hatten.
III. Empfehlung
- Die Evaluation ist als das zu nehmen, was sie ist. Ein Machwerk engagierter Soldatinnen und Soldaten mit mehr oder weniger Erfahrung in und mit der Bundeswehr, jünger oder älter, ohne Anspruch auf Vollständigkeit oder dem Glauben auf die Deutungshoheit. Aber, sie ist ernst zunehmen, auch wenn einige der Gedanken auf den ersten Blick „ungewohnt“ erscheinen.
- Weitergabe der Evaluation an die Verantwortlichen in der TSK HEER für den Heimatschutz, um beim Aufbau desselben Zeit zu sparen.
Berlin, 29. November 2024
Im Auftrag
Dutschke, Oberstleutnant und Projektleiter
Persönliches Fazit
Vielleicht finde ich in den nächsten Wochen die Muse und widme mich in einem ausführlichen Artikel diesem Lebensabschnitt als RDLReservistendienst Leistende in einer Projektgruppe. Ich habe sehr viel gelernt – und auch, wenn es am Ende weder eine Stabs-TIV-ID, noch einen warmen Händedruck oder gar ein „Vielen Dank für Ihren Dienst“ gab – so hatte ich als Schütze (später OG, HG) und einer der fachlichen Leiter der Projektgruppe einen Einblick in das System Bundeswehr – den mir niemand mehr nehmen kann. So stehe ich hier, kann nicht anders und werde den Finger in die Wunde legen bis es schmerzt, weil mir unser Land und unsere demokratischen Werte verdammt nochmal wichtig sind (viel wichtiger als „Kästchendenken“) und weil nur politischer Wille und Druck etwas bewirken kann – für diesen wiederum sind wir als Gesellschaft alle (mit)verantwortlich.
Danksagung
Ich möchte mich bei meinen Kameraden aus der Projektgruppe (alles unterschiedliche Charaktere mit verschiedensten Hintergründen, alle mit ganz besonderen Stärken, alle mit Herzblut dabei) bedanken für die einzigartige Zusammenarbeit. Ich bin als Schütze ins Projekt gekommen und doch hat mein Dienstgrad nie eine Rolle gespielt. Ihr habt mich geschätzt für meine zivilen Fähigkeiten und als zuverlässiger Kamerad, aber auch mit meinen Macken, und dafür bin ich euch sehr dankbar! Ich denke zurück an unsere gemeinsamen Workshops, das Wälzen von Vorschriften, das Yin und Yang von Peter und Jochen, die irrwitzigen bürokratischen Irrwege, die unzähligen Präsentationen, VZIs und VZEs usw., unser „Hochregallager der Ideen“, unsere Pitches und Dailies, unsere großen „Schlagworte“, unsere Sparrings, den TdBw… Und ich bin stolz darauf, dass wir uns nicht haben unterkriegen lassen sondern tapfer immer weiter gekämpft haben! Eines Tages werden sie es erkennen…
Abschließend möchte ich mich ganz besonders bei meiner Frau bedanken, die mir, immer und immer wieder aufs Neue, den Rücken freihält und mich selbstlos unterstützt – und mir die Treue hält, auch wenn ich unausstehlich gefrustet oder überfordert und durch den Wind bin. Per aspera ad astra. Danke, Honey!
Sehr bedauerlich, benötigen wir doch dringend mehr Aufmerksamkeit und zukünftige Kameraden. Vielen Dank Daniel für Deinen Einsatz und Mühe.🫡
Ich befürchte man setzt auf eine, wie auch immer gestaltete, Wehrpflicht – die irgendwann in künftigen Legislaturperioden kommen könnte. Was man dabei vergisst ist allerdings, dass Ungediente die wehrwillige Gesellschaft repräsentieren, hoch motiviert sind und in der Reserve auch tatsächlich auf dem Hof stehen – und nicht nur auf dem Papier, wie z.B. bei der Grundbeorderung (GBO).
100 % Zustimmung. Motivation und Willen es zu tun, hier sollte die BW schnellstmöglich aktiv werden und – zukünftige Kameraden (z. B. ungediente) ausbilden.
Danke für Deinen Dienst Daniel! 🫡
Vielen Dank für die Anerkennung! 🫡